Ora Blu Vol. I – Bundestagswahl

In der blauen Stunde - Zwischenlaute aus der Mitte der Gesellschaft.
Hartnäckig hält sich der Mythos einer überpolitisierten linksgrünversifften Jugend, die am liebsten alle zum Gendern zwingen möchte. Ein kleiner Realitycheck, zwischen Lockdowns und Erwachsenwerden.

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    Liv Ergang
    Liska Henglein
    Jonas Janker
  • [tags]
    Artikel
    Wahljahr 2021
    Gesellschaft
    Nichtwähler
  • [meta]
    03.09.2021

Am 22. März letzten Jahres friert das öffentliche Leben in Deutschland ein. Damit auch: Jugendtreffs, Schulen, Berufsschulen und Universitäten. Der Lockdown trifft Generation Z, Millennials und alles dazwischen dort, wo es besonders wehtut. In den eigenen vier Wänden. Da hat sich etwas aufgestaut.
Es ist kurz vor der Bundestagswahl im August 2021.
Die Wahlbeteiligung der letzten Jahre lassen ungutes erahnen. Die Antwort auf die wöchentliche „Sonntagsfrage“: 24 Prozent der Wahlberechtigten wollen nicht wählen oder sind unentschlossen.
Was bewegt diese Menschen nicht zu Urne zu gehen? Woher kommen ihre Ängste, Wut oder auch ihre Gleichgültigkeit?
Wir wollen wissen, ob auch junge Menschen im Alter von 18 bis 29 nicht auf ihr Wahlrecht zurückgreifen. Und wenn, warum?
Wir sind losgefahren. Um 22:00 Uhr, mit Mikrofon und Kamera im Gepäck. Und unseren Fragen:
Gehst du wählen? Wenn nicht, woran liegt es?
In München, sammeln sich abends die jüngeren Bewohner*innen. Der Geruch von Freiheit und Marihuana liegt im englischen Garten in der Luft. Allerdings auch nur so lange bis sich die nächste Polizeistreife nähert.
Zwischen alle den Feierwütigen machen wir uns auf die Suche.
Ein Annäherungsversuch: an Zukunftsängste, Politikverdrossenheit und Schnapsfahnen.

[Fig. 1] Liska Henglein

Julian M – 18 Jahre

»Meine Sachen sind mit Freunden treffen, Fitnessstudio, Arbeit. Das sind halt so meine Sachen.«

Da, im sommerlich ergrünten Herz der Stadt, gibt sich die Adoleszenz dem Hedonismus hin. So auch Julian M., 18 Jahre alt.
Während die Fridays for Future-Fraktion das öffentliche Bild verstärkt, die „heutige Jugend“ wäre durchweg politisiert, zeigt sich hier ein eher gegensätzliches:
Julian M. steht mit seinen Freunden in einer Gruppe und hört Deutschrap.
Bereits in der Schule mit Politik in Berührung gekommen, gibt er auf die Frage, warum er nicht wählen geht, zu Protokoll: „Ganz einfach, weil ich andere Sachen im Kopf hab. Und mich das nicht so interessiert (…). So Politik und so, da bin ich voll raus.“ Die Kette glitzert frech, die weiße Hose sitzt unnachahmlich stilecht.

Ob nach 16 Jahren Union in der Regierungsverantwortung Politikverdrossenheit herrscht? In diesem Fall nur aufrichtiges Desinteresse.

Zwanzig Meter weiter grölen um die hundert Heranwachsenden Angels von Robbie Williams. Sie tragen sich gegenseitig auf den Schultern. Smartphonetaschenlampen tanzen wie Glühwürmchen auf Crack.
Den Verdruss auf die, eigentlich immer noch geltenden Kontaktbeschränkungen zum Zeitpunkt des Gesprächs, verspürt Julian auch:
Wenn Julian etwas an der Politik nervt, dann sind es handfeste Sachen, die zu diesem Zeitpunkt noch geltenden Coronabeschränkungen zum Beispiel:

»Ich find das einfach einen Schwachsinn, Schmarren!
Weil die übertreiben, bisschen so. Weil Corona Pi-Pa-Po, Ausgangssperre, des und des, weißt du?
Und das geht mir am Arsch vorbei, ganz ehrlich Alter. Die Langweilen mich richtig, so, weißt du?«

Julian M.

Nach einem Jahr Corona-bedingtem Verlust der Realität, einfach durch Wegfall sämtlichen Alltags wenig überraschend. Kritisch möchte man fragen: Was wurde eigentlich für die Jugend in diesem Jahr gemacht? Perspektivisch als letzte geimpft, praktisch am längsten ungeschützt.

[Fig. 2] Liska Henglein

Tim S – 19 Jahre, Abiturient

»Was ich halt wichtig finde, ist das für die Geimpften jetzt mal Freiräume kommen. Das ist mir wichtig, weil - keine Ahnung - ich will mich nicht umsonst geimpft haben.«

Wenige Meter Weiter steht, in einer rein männlichen Gruppe Tim S. Er ist 19 Jahre alt.
Abitur hinter sich, Studium vor sich. Er sagt, er würde im September nicht wählen gehen, weil er sich nicht hinreichend informiert hat.
Die älteren Menschen in seinem Umfeld gehen wählen. Er sagt allerdings: „Ich hab jetzt nichts wo ich sage: Ok, das muss ich jetzt ändern, ich muss jetzt wählen gehen, dafür.“
Gelebte Meinungsvielfalt, einige Wochen später treten Gleichaltrige vor dem Berliner Reichstag in einen Hungerstreik für das Klima.
Auf Nachfrage dann doch: Neben Freiheiten für Geimpfte ist der Klimaschutz ihm ein wichtiges Thema. Allerdings mit Einschränkung. Tempolimit auf der Autobahn - unnötig. „Das man nicht mehr fliegen darf in Europa hab ich gehört. Fänd ich jetzt auch nicht so cool ehrlich gesagt. Trotzdem bin ich schon gegen Klimawandel, da sollte man schon was machen.“
Im Wahlkampf wird maximal über Inlandsverbote diskutiert. Er sagt, dass Er sich viel über Social Media informiert. Wem er da folgt?

»Wen hab ich abonniert? Den Markus Söder hab ich abonniert! CDU hab, ich glaube ich auch abonniert. Und sonst so News-Seiten halt, wo du halt Sachen mitkriegst. Aber jetzt nicht irgendwelche Parteien.«

Tim S.

[Fig. 3] Liska Henglein

This is America - Childish Gambino läuft im Hintergrund

Gleiche Gruppe, anderer Gesprächspartner. Im Merchandise eines österreichischen Rappers spricht Sasha R. hochdeutsch. Mit bayrischem Einschlag.
Er hat die Sorge, dass seine Stimme keinen Einfluss hätte. Der Großteil der Wähler wäre älter. Deren Stimme würde nicht den Interessen seiner Generation entsprechen. Laut einer Statistik des Bundeswahlleiters werden dieses Mal ungefähr 2,8 Millionen Erstwähler*innen den Schritt an die Urne wagen können. Wahlbeteiligung ungewiss. Bei der letzten Bundestagswahl 2017 lag die Wahlbeteiligung der 18 bis 24-Jährigen bei leicht unter 70 %. Im Vergleich: Bei den über 45-Jährigen stehen gut 10 Prozentpunkte mehr.
Zurück in den bayrischen Dialekt: Kernthema für Sasha, übrigens in der Ausbildung zum Zahntechniker, ist Digitalisierung.

[Fig. 4] Liska Henglein

Sasha R – 18 Jahre, Ausbildung zum Zahntechniker

»Da sagen sie immer: Ja wir digitalisieren alles und blablabla. Und was passiert? Im Grunde eigentlich nichts.«

Politik ist Zuhause bei der Familie Thema. Markus Lanz schauen mit dem Vater, beim Abendbrot über die Kandidatur vom Markus Söder reden, sowas.
Von I-wähl-CSU-wei-da-Papa-scho-CSU-gwählt-hod keine Spur, denn: „Wenn mein Vater wählen geht und ich dann so frag: ‚was hast du eigentlich gewählt?‘, dann sagt er: ‚Nein. Also ich will nicht, dass du weißt, was ich wähle, ich will schon, dass du dir da deine eigene Meinung bildest.‘“
Allerdings: „Wenn ich mit ihm drüber rede, dann ist das schon einleuchtend, was er sagt. Deshalb kann es schon sein, dass ich da bisschen beeinflusst werde.“
Das Michigan-Modell erklärt das Wahlverhalten als Ausdruck einer individuellen psychologischen Beziehung zu einer Partei. Die familiäre Umgebung wirkt maßgeblich auf die Sozialisierung ein, kann also dementsprechend diese individuelle Beziehung zu einer Partei oder politischen Strömung beeinflussen.

»Wie heißt er? Markus Söder. […]ich glaub wirklich das so ein Markus Söder als Bundeskanzler, also wir bräuchten mal so einen richtigen Mann in der Regierung, der jetzt wirklich sagt, wo es lang geht. Und der Laschet ist halt meiner Meinung nach bloß die Merkel in männlich.«

Sasha R.

[Fig. 5] Liska Henglein

Englischer Garten, München

Söder steht nicht zur Wahl. Stattdessen mit Aussicht aus Kanzleramt: Baerbock, Laschet und Scholz. Grund genug für Sasha sich mit dem Wahlprogramm der Grünen Auseinander zu setzen. Die Grünen könnten ihre eigenen Forderungen in Bezug auf Umweltschutz selber eh nicht erfüllen; hätte der Söder gesagt.

Das wäre ein Grund für ihn wählen zu gehen, damit es nicht „Die“ werden, sagt er.

Sasha erinnert sich an ein Plakat der Grünen mit „feministischem Slogan“ in Gröbenzell:

„Da stand halt so was ganz Feministisches und da denk ich mir: Komm, also wenn man damit anfängt, da von Frauen müssen und alles. Nein, es sind alle gleich und fertig. Und dann jetzt irgendwie gegenwirkend zu den Männern jetzt irgendwas selber aufzubauen. Ja komm, Gleichberechtigung und fertig.“
Er verneint die Frage, ob er Feminist ist.


Im Univiertel plätschert ein Brunnen, auf dem Grünstreifen daneben glimmt Kohle auf einer Shisha. Im Rondell sitzt Saskia S. mit zwei Freundinnen auf einer Bank. Die drei haben sich schön gemacht. Saskias langen Haare sitzen perfekt.

Die 23-jährige, gelernte Einzelhandelskauffrau vergleicht die Parteien im Bundestag mit trojanischen Pferden.

[Fig. 6] Liska Henglein

Saskia S – 23 Jahre, gelernte Einzelhandelskauffrau

»Man kann sich einfach nicht auf die Parteien verlassen. Weil man einfach nicht weiß, ob das stimmt was sie einem versprechen.«

Ein Thema, dass sie beschäftigt: die Rente. Sie sagt: „Meine einzige Angst wäre, wenn ich in der Rente kein Geld bekommen würde. Wenn ich bis 70 arbeite und dann bekomme ich wenig Geld, das wär nicht super.“

Rente wird im Wahlkampf wenig zum Thema gemacht, oft hat man das Gefühl, dass ein Kulturkampf ausgerufen wird.
Sozialismus, Gendern und Umweltschutz gegen Wohlstand, Freiheit und Selbstbestimmung.
Saskia befasst sich eher mit Parteien als mit den einzelnen Politikern. Bei einer Partei fühlt sie sich aufgehoben, vertreten.

»Die nicht so gute. Also es ist jetzt sehr rassistisch die Partei. Die AfD«

Saskia S.

Sie hat offenbar das Gefühl sich erklären zu müssen: „Ja, also, dass sie was gegen Ausländer haben, das ist nicht so wichtig. Aber, das mit der Rente, find ich halt super. Und man sollte halt bisschen menschlicher denken.“
Blick auf die Bank, die Reaktion der schwarzen Freundin ist schwer lesbar. Die Mimik gibt nichts preis. Danach sagt sie uns noch, sie würde auch nicht wählen gehen.

Politik ist im Umfeld kein Thema: „Im Freundeskreis redet keiner drüber, meine Mutter wählt eh immer nur die AfD. Aber ich mach mir schon ein eigenes Bild.“ Stichwort: Michigan Modell.
Manchmal behauptet, dass die Jungbevölkerung vornehmlich links wähle würde. Bei den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt in diesem Jahr war die AfD zweitstärkste Kraft bei den unter 25-Jährigen. Vor Grünen, FDP, SPD und der Linken.

[Fig. 7] Liska Henglein

Seif F – 19 Jahre, Student

»Ich glaube, wenn sie das direkt beeinflusst, dann sollten sie wählen dürfen«

Seif, ist 19 Jahre alt, mit einer Jägermeisterflasche bewaffnet und studiert.
Er wird nicht wählen, lebt mit ägyptischem Pass in Deutschland. Laut Mikrozensus 2019 leben in Deutschland 10,1 Millionen Menschen ohne deutschen Pass. Grob überschlagen: Von 83 Millionen darf jede achte Person nicht wählen. Als Student würde er sich in Deutschland nicht politisch engagieren wollen. Er informiert sich aktiv mit Social Media über Politik. „wenn etwas mich so negativ beeinflussen würde, hätte ich schon gerne dass jemand mich repräsentiert.“

[Fig. 8] Liska Henglein

Catherine O – 27 Jahre, Influencermarketing

»Es ist egal was ihr macht hier in deutschland. Ihr bleibt okay. Ihr habt keinen Bolsonaro.«

Catherine O.

„Aber ich glaube irgendwann, da muss ich schon mal wählen gehen“

Warum gehen junge Menschen nicht abstimmen?
Desinteresse, rationales Abwägen, Proteswähler und technische Nicht-Wähler. In diese Kategorien teilt der Politikwissenschaftler Oskar Niedermayer die Nichtwähler ein.
Irgendwann ist es 02:30 Uhr, die Polizei schickt die feierlustige Jugend nach Hause.
Viele der jungen Menschen, die wir heute getroffen haben, fühlen sich außen vor.
So richtig in Berührung kommen sie mit „dieser Politik“ nicht. In der Schule wurde auch nie so richtig darüber gesprochen, berichten die meisten.
Familie scheint eine große Rolle zu spielen. Aber weniger die Politiker, eher schon die Parteien. Diese glänzen eher mit komplexer Sprache und ungreifbaren Inhalten.
Die Politiker sprechen über die Jungen, aber selten mit ihnen. Dabei könnten doch gerade jetzt Impulse zu Zukunftsthemen, von denen kommen, die gerade der Gegenwart entwachsen.
Nur, zum Engagement und zur Partizipation kann man niemanden zwingen. Aber ermutigen.