Lieber gar nicht erst dran gewöhnen

Das politische Scheitern in Afghanistan setzt sich an den europäischen Grenzen fort.

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    Jakob Wilkening
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    Kolumne
    Afghanistan
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    27.10.2021

Der Wirbel um die Rettungsaktion der Bundeswehr am Flughafen in Kabul ist schon halb vergessen. Die Taliban haben die Kontrolle in Afghanistan erfolgreich zurückerobert. Der Bundeswehr gelang es nicht, sämtliche von ihnen eingesetzten und deshalb auf besondere Weise gefährdeten Ortskräfte der afghanischen Bevölkerung auszufliegen, bevor die Taliban wieder die Kontrolle übernahmen.

Nach dem Machtwechsel in Afghanistan sind wieder viele Menschen auf der Flucht, natürlich auch mit dem Ziel Europa und Deutschland. Das Thema ist nicht vom Tisch. Über das Konzept, anderen Ländern das eigene Verständnis von Rechtsstaatlichkeit einzutreiben, lässt sich definitiv streiten. Sicher aber ist, dass ein Leben unter islamistischer Diktatur eine Gefahr für Freiheit und Unversehrtheit der meisten Menschen bedeutet. Fluchtbewegungen von Menschen, die unter diesen Umständen zurück gelassen worden, sind nicht überraschend. Jetzt aber, wo über Geflüchtete gesprochen wird, ändert sich der Blickwinkel abrupt. All die Wohltätigkeit endet in dem Moment, wo Grenzen überwunden werden müssen, um das Leben anderer Menschen zu retten. Schon während der Einsatz in Afghanistan scheiterte, wurde darüber diskutiert, wie dessen Auswirkungen möglichst nicht bei uns ankommen. Im Wahlkampf bereits palaverten CDU-Politiker:innen, dass sich ein zweites 2015 nicht wiederholen dürfe.

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International fordert zur aktuellen Lage, dass alle Länder der Verpflichtung zum Schutz von Menschen, die von schweren Menschenrechtsverletzungen betroffen sind, nachkommen müssten. Es wirkt grotesk, die EU an ihre eigens festgelegten Werte zu erinnern. Genauso, wie einem die im Moment präsenten Bilder der Menschenrechtsverletzungen an europäischen Grenzen bereits gewohnt erscheinen.

Im Moment ist es für die afghanische Bevölkerung nicht nur schwierig, an gültige Reisedokumente zu gelangen, auch haben die Nachbarländer ihre Grenzen bereits geschlossen und eine Ausreise ist nur sehr schwierig möglich. Derweil werden Geflüchtete, die es weiter geschafft haben, zwischen den Ländern hin und her geschoben. Berichten zufolge, wurden an der polnischen EU-Außengrenze Grenze Menschen mit Gewalt und auf nach EU-Recht illegale Weise zurückgedrängt. Auch faschistische Gruppierungen machen sich auf, um an den Grenzen zu patrouillieren.

Wenn jetzt in den Tagesthemen erneut Framings wie „Migrationsproblem“ aufgemacht werden und die EU überfordert ist, weil der belorussische Diktator Alexander Lukaschenko gezielt Geflüchtete über die Grenze in Richtung EU schickt, weckt das an manchen Stellen tatsächlich Erinnerungen an die 2015 skandierte „Flüchtlingskriese“. Auch damals stritten sich die EU-Mitgliedsländer über eine „gerechte“ Verteilung von Menschen, die von ihrem Asylrecht Gebrauch machen mussten, während die damalige Pegida-Akteurin und AfD-Politikerin Tatjana Festreling mit einer Bürgerwehr an der bulgarischen Grenze patrouillierte. Der nationalistische Traum von einer Festung Europa scheint in diesen Tagen der Realität wieder ein Stück näher. Das bedeutet, das Schicksal der Menschen außerhalb dieser Grenzen, kümmert niemanden mehr. Das Schlimmste, was jetzt passiert, ist festzustellen, dass man sich längst an diese Bilder gewöhnt hat und der gesellschaftlichen Abgestumpftheit Menschenrechtsverletzungen kaum noch ein Skandal wert sind. Aus politischen Fehlentscheidungen, die beim Rückzug aus Afghanistan in einem Desaster endeten, wurden bisher keine Konsequenzen gezogen.