Editorial: Afghanistan

Gut zwanzig Jahre nach 9/11 ist der Einsatz der NATO-Streitkräfte in Afghanistan in diesem Sommer zu Ende gegangen. Offen bleibt danach vor allem die Frage, nach der Verantwortung des Westens. Anlass für uns, unseren zweiten Themenschwerpunkt zu setzen.

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    Jonas Well
    Jonas Janker
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    Editorial
    Afghanistan
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    18.10.2021

Unser zweiter Themenschwerpunkt grob umrissen: Afghanistan und Alles was damit zu tun hat. Mal zur Einordnung: Wer bei den diesjährigen Bundestagswahlen Erstwähler*in war, hatte das Licht der Welt vielleicht noch gar nicht erblickt, als im Winter 2001, unter der Regierung von Kanzler Schröder die Teilnahme am ISAF-Einsatz in Afghanistan beschlossen wurde. Nicht nur bei den Jüngeren dürfte eine ganze Menge Fragen, zum aktuellen und historischen Geschehen in Afghanistan, offen sein. Wir wollen sie klären. In Deutschland lebten laut Ausländerzentralregister 2020 rund 272.000 Afghanische Staatsbürger*innen. Dem Leben in der Diaspora widmen wir uns im kommenden Themenschwerpunkt.

Was ist eigentlich passiert? Die Intervention in Afghanistan begann im Januar 2001, als afghanische Widerstandskämpfer mit Unterstützung von amerikanischen und britischen Truppen das Taliban-Regime innerhalb weniger Monate stürzten.
Um den darauf folgenden Aufbau des neuen Afghanischen Staates abzusichern, wurde 2002 die ISAF International Security Assistance Force (ISAF) Mission gestartet, an der sich Deutschland und viele weitere Staaten beteiligten. Als ISAF 2014 durch die Ausbildungs- und Trainingsmission Resolut Support abgelöst wurde, stellte die Bundeswehr eines der größten Truppenkontingente. Obwohl über den Zeitraum von 20 Jahren über eine Million ausländische Truppen in Afghanistan stationiert waren und viele Milliarden in Nation-Building und Entwicklungsarbeit investiert wurden, gelang es nie den Widerstand der Taliban zu brechen. Als Anfang August 2021 ebenjene die Afghanische Regierung stürzte, verließen die letzten ausländischen Soldat*innen bereits das Land. Zusammenfassend ist festzuhalten: die Intervention in Afghanistan können keinesfalls als Erfolg betrachtet werden.

Doch die von den USA geführte Koalition war nicht die erste ausländische Macht, die versuchte, in Afghanistan ein politisches System zu stürzen, das Land dauerhaft zu stabilisieren und dabei scheiterte. Mehr als hundert Jahre vor der Intervention der internationalen Koalition hatten bereits die Briten Mitte des 19. Jahrhunderts versucht, Afghanistan dauerhaft zu kontrollieren. In den 1980er Jahren marschierte dann die Sowjetunion ein, um in Afghanistan einen kommunistischen Staat zu errichten. In beiden Fällen trafen die ausländischen Mächte auf so heftigen Wiederstand, dass sie nach nur wenigen Jahren wieder abziehen mussten. In einem weiteren Themenschwerpunkt wollen wir uns daher Afghanistan aus einer historischer Perspektive nähern und der Frage nachgehen, weshalb Supermächte wie die USA, die Sowjetunion oder das British Empire in Afghanistan einmarschierten und so desaströs scheiterten. Macht sich China jetzt eigentlich schon als nächste Supermacht bereit, um ihre Interessen in Afghanistan zu verfolgen?

Während der 20 Jahre andauernden Intervention durch NATO-Mitgliedsstaaten in Afghanistan konnten allerdings auch einige Dinge zum Besseren verändert werden. Insbesondere Frauenrechte wurden massiv gestärkt. Unter der Herschafft der Taliban konnten Frauen hingegen nicht zur Schule gehen und nur in Vollverschleierung und männlicher Begleitung das Haus verlassen. Ein Zustand, der durch westliche Interventionen gekippt wurde: Frauen durften wieder alleine auf die Straße, zur Schule, studieren und ihren Berufen nachgehen. Diese gewonnen Freiheiten wurden nun unter der erneuten Taliban-Herrschaft wieder einkassiert. Im Gespräch mit afghanischen Frauen wollen wir uns auch der Frage widmen, wie es momentan um die Situation von Frauen in Afghanistan steht.

Während die Taliban lernen wieder im Sattel zu sitzen, ist da die Verantwortung gegenüber denen, die mit westlichen Streitkräften zusammengearbeitet haben und jetzt um ihre Sicherheit bangen: Ortskräfte, denen höchster Schutz versprochen wurde. Oder gegenüber denen, die nicht kollaboriert haben und nun trotzdem vor den Taliban flüchten, oder sogar noch vor Ort protestieren. Gegenüber Afghanischen Staatsbürger*innen die in Deutschland leben und denen Abschiebung droht.
Die Bilder aus dem August, als sich Menschen in Kabul an abhebende Flugzeuge klammerten, nur um wenige Sekunden nach Start aus großer Höhe wieder zu Boden zu stürzen, müssen dem Westen bei zukünftigen militärischen Eingriffen Warnung sein.