»Zukunft wär schon geil!«
Zwischen 1,5 Grad und der Realität

Was hat der Globale Klimastreik in Deutschland zwei Tage vor der Bundestagswahl eigentlich noch gebracht? Und wie ist die Stimmung bei einem Streik, dessen Ziele einen Teil der jungen Generation verzweifeln lässt? Am 24. September 2021 waren wir in Nürnberg dabei, haben Stimmen eingefangen und Eindrücke festgehalten. Denn auch nach der Wahl bleibt das Thema Klimapolitik brisant. Ob Ampel oder Jamaika - kann das überhaupt noch zufriedenstellend sein?

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    Leonie Bednorz
    Amelie Ries
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    Reportage
    Wahljahr 2021
    Fridays for Future
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    11.10.2021

Freitag, 24. September – Zwei Tage vor der Bundestagswahl. Luisa Neubauer teilte gestern noch ihre Vorfreude mit über 300.000 Gleichgesinnten auf den heutigen Tag. “Das Erzbischoftum München, die Umweltabteilung, die haben jetzt einfach zum Klimastreik aufgerufen, Patagonia macht alle Läden zu und schickt die Mitarbeiter:innen zum Klimastreik, Ingo Zamperoni ruft mit auf - es ist so abgefahren! […] Überall vibriert es und das ist so atemberaubend, was gerade in diesem Land auf die Beine gestellt wird: über 470 Streiks, meine Fresse!” Heute ist der achte globale Klimastreik, ein Streik, der in Deutschland besondere Bedeutung hat. Selbst Greta Thunberg, Vorbild für eine ganze Generation, ist in Berlin mit am Start, Schulter an Schulter mit Luisa Neubauer, die in Deutschland nach Inspiration von Thunberg junge Menschen politisch aktiviert. Seit 162 Wochen gehen Generation Z und Millenials nun schon jeden Freitag für eine gerechte Klimapolitik auf die Straße. In Deutschland wird sich in den kommenden Wochen eine neue Regierung zusammensetzen, eine Regierung, die bislang nicht klimagerecht agiert hat und voraussichtlich auch in der nächsten Legislaturperiode keine Klimagerechtigkeit schaffen wird.

Nürnberg hüllt sich heute in einen Schleier aus grauen Wolken. Auf der Wöhrler Wiese steht eine kleine Bühne mit mehreren Mikros, eine Band spielt Musik, in ihrem Rücken stehen auf dem Gras einige Solarpannels – regenerative Energien scheinen wichtig. Noch kommt es einem so vor, als wären die Polizist:innen, die an den Rändern der Wiese das Geschehen mit starrem Blick überblicken, deutlich in der Überzahl. Nur wenig Personen, die man eigentlich direkt mit Fridays For Future in Verbindung bringt – junge Leute, Schüler:innen, Studierende eben – sind bislang anzutreffen. Stattdessen füllt sich der Raum vor der Bühne zunächst mit Menschen, die definitiv nicht mehr als Schüler:innen und Studierenden durchgehen: Junge Eltern mit Kindern, Alte und Renter:innen, die sich interessiert in der Gegend umsehen. Durch Plakate mit Aufschriften wie „Parents For Future“ oder sogar „Oldies For Future“ wird schon aus der Ferne klar, dass Fridays For Future längst nicht mehr nur die Gen Z interessiert. Dazwischen finden sich zahlreiche Initiativen und Bündnisse mit ihren Bannern dazu: verdi, Greenpeace, die GEW Nürnberg (Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft) – um nur einige zu nennen. Es ist halb eins, nach offiziellen Angaben sollte die erste Kundgebung jetzt beginnen. Ein weiterer Blick nach hinten zeigt, dass sich die weitläufige Wiese innerhalb kürzester Zeit mit zunehmend jungen Menschen füllt. Fast ausnahmslos tragen sie Pappschilder mit Sprüchen, Aufschriften und Bildern mit sich herum: „Zukunft wär schon geil“ – ein Tenor, den man an diesem Tag noch öfter hören wird. Aus dem Publikum, das mittlerweile wirklich alle Altersgruppen umfasst, hört man Fahrradklingeln, Pfeifen, Trommeln und Getuschel. Beim genaueren Hinhören sind immer lauter werdende Flugzeuggeräusche zu vernehmen, das Getuschel wird lauter. Ein Blick in den Himmel erklärt die aufkommende Unruhe: während sich unten für Klimagrechtigkeit eingesetzt wird, fliegt oben in provozierenden Kreise dieBasis über die Wiese. Eine Partei, deren Absichten besonders hier fraglich sind. Abgeholt wird aus dieser Menge damit keiner. Neben ironischen Sprüchen wie “damit erreichen die hier die Richtigen”, wird dem Flugzeug keine weitere Beachtung geschenkt. Mitten in der immer größer werdenden Menge blitzen neongelbe Westen hervor. Sie stellen sich als Ordner:innen heraus, die Spenden für Fridays For Future sammeln. Zwei von ihnen laufen direkt an uns vorbei, verweilen kurz. Beide sind Erstwähler, etwas schüchtern, aber trotzdem selbstbewusst genug, um sich hier offen für ihre Zukunft zu engagieren. Sie zählen zu denjenigen, die gegen eine Politik demonstrieren, die sie selber gar nicht gewählt haben. Die Frage, ob sie am Sonntag wählen gehen oder nicht steht für keinen von ihnen überhaupt im Raum – natürlich gehen sie wählen.

Ein junger Typ, auch in gelber Weste, betritt die Bühne, er stellt sich als Versammlungsleiter vor. Unter der knalligen Weste blitzt ein T-Shirt hervor. Aufschrift: „FCK NZS“. Man positioniert sich klar und deutlich, zeigt, für wen es auf dieser Demo keinen Platz gibt. Er übergibt das Mikro an mehrere Redner:inneren, die die Menge thematisch abholen und anheizen. Von Anfang an wird ein Thema besonders hervorgehoben: Die Bundestagswahl am 26. September 2021. Die Relevanz der Wahl wird vor allem im Kontext der jüngsten Naturkatastrophen deutlich: massive Waldbrände im Süden Europas, reißerische Flutkatastrophen mitten in Deutschland. Die Kritik an der noch bestehenden GroKo wird laut ins Mikro gerufen. Die Redner:innen sind wütend: “Egal, was bei dieser Wahl herauskommt, es wird keine Klimagerechtigkeit werden. Das deprimiert mich, das macht mich wütend und das macht mir vor allem Angst.” Clea Braun ist Anfang 20 und gehört zum Organisator*innenteam. Sie fordert die Umsetzung eines sozialgerechten, feministischen und antirassistischen Klimaschutzes - eine Politik, die so de facto nicht wählbar ist. “Deswegen bleibt unsere Wahl weiterhin der Klimastreik”.
Auch Fabia Klein, die kaum einen Streik in Nürnberg verpasst hat, betont schimpfend ihren Ärger: “Es ist unmöglich, dass man unsere Zukunft aufs Spiel setzt und es ist unmöglich, dass unsere Politik nicht einmal nach zweieinhalb Jahren Klartext mit der Wissenschaft handelt. Ich könnt wirklich heulen! Sie beschwert sich zudem über die Symbolpolitik der Parteien, die sich den Klimaschutz fett auf die Fahne schreiben, diesen aber keineswegs gerecht umsetzen und nicht 1,5-Grad-konform sind, ein offizielles Versprechen, das nicht eingehalten wird. “Es macht mich so wütend, dass ich immer noch hier stehen muss.” Eine Chance sieht Fabia allerdings in der Wahl und fordert alle, denen es möglich ist, ihre Stimme abzugeben, auf, politisch mitzuwirken: “Veränderung fängt auf der Straße an und geht auf dem Wahlzettel weiter!”

Ein ganz wichtiger Gast an diesem Tag: Michael Sterner, kommt direkt aus der Wissenschaft, mit der die jungen Demonstrierenden in Einheit stehen, und ist Professor für Energiespeicher & Energiesysteme. Er ist heute in eigener Sache da und appelliert in seiner Rede emotional ans Publikum: Es sei die verdammte Pflicht jeder wahlberechtigten Person auch eine Stimme im Interesse der Zukunft abzugeben. Das Wort „verdammt“ fällt nicht nur ein Mal in seiner Ansprache. Als Wissenschaftler bringt er Fakten mit, spricht über Klimaflüchtlinge, die es in Zukunft vermutlich in vermehrter Zahl geben wird, er spricht über immense zukünftige Kosten, die stetig zunehmen werden, je länger man mit einem angemessenen Klimaschutz wartet. Auch das Klimaschutzgesetz (KSG) wird thematisiert, welches noch im April diesen Jahres Schlagzeilen machte.
Das Bundesverfassungsgericht teilte damals mit, dass sich das KSG (Dezember 2019) teilweise nicht mit Grundrechten vereinen ließe. Artikel 20a des Grundgesetzes schreibt: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.“ Das BVerfG führt weiter in der Pressemitteilung aus, dass es die „teilweise noch sehr jungen Beschwerdeführenden“ durch das KSG in ihren Freiheitsrechten verletze. Unter anderem wegen fehlender Angaben zur Emissionsreduktion nach dem Jahr 2030 würden sich Gefahren des Klimawandels auf einen weitaus späteren Zeitpunkt verschieben. Aktivist*innen von Fridays For Future waren unter anderem Beschwerdeführende.

Während sich ein Lautsprecherwagen neben der Bühne, der die gesamte Demonstration lang für lautstarke Ansagen und Musik sorgen wird, in Bewegung setzt, werden die letzten Worte auf der Bühne schon von den loslaufenden Massen verschluckt. Jetzt erst geht die Demo richtig los, die Menschenmenge zieht über einen schmalen Weg von der grünen Wiese auf die abgesperrte Hauptstraße hoch. Nun wird erst absehbar, wie viele Menschen überhaupt dabei sind. Wo schätzungsweise zunächst 3500 Menschen vermutet wurden, sind letztlich circa 7000 Menschen auf den Straßen. Deutschlandweit sind es sogar über 620.000. Abschnittsweise erinnert die Demo in Nürnberg an eine Fahrraddemo – viele Demonstrierende schieben ihrer Räder neben sich her. Teilweise mit Demoschildern zugeklebt, wird das Fahrrad weniger als Fortbewegungsmittel genutzt, sondern vielmehr als mobile Litfaßsäule mit anregenden, nahezu erschütternden Phrasen gegen die gegenwärtige Politik und für den Kampf gegen die Klimakrise zweckentfremdet, die dazu auch noch ordentlich Lärm macht – fast dauerhaft sind Fahrradklingeln zu hören. Begleitet von Polizei und Schaulustigen, die aus den Fenstern der Stadt runter auf die Demonstrierenden blicken, bahnen diese sich den Weg durch die teilweise engen Straßen Nürnbergs. Eine Frau – sie mag Mitte 40 sein – hält mit einer weiteren Person ein schwarzes Banner in die Höhe. Das Pariser Klimaabkommen wird abgebildet – extrem wichtig für den globalen Klimaschutz. Vorbeiziehende Passanten werden immer wieder deutlich dazu aufgefordert, sich der Demo anzuschließen. Am Rand stehen und tatenlos zugucken gibt’s hier scheinbar nicht.

Während sich Musik mit dem schrillen Sound von Trillerpfeifen, Fahrradklingeln, Trommeln, Demosprüchen wie „What do we want? – Climate Justice!“ und Megafon-Ansagen in der Ferne mischt, sprechen wir mit Regina, 59 Jahre alt, kinderlos. Den Kopf nach vorne gerichtet, mit zielstrebigem Gang erzählt sie uns von ihrer Motivation auf diese Demo zu gehen: „Wir müssen halt zeigen, dass es nicht alleine genügt, wählen zu gehen. Man muss auch in der Demokratie aktiv werden.“Sie hofft, durch den Klimastreik noch Aufmerksamkeit für das Thema generieren zu können und so Unentschlossene zu erreichen. Unentschlossen was die Wahl angeht, sind auf dieser Demo vermutlich nur wenige. Plakate mit Fragen wie „Opa, was ist ein Schneemann?“ oder „Wie gern atmest du?“ lassen zumindest grob eine politische Richtung erkennen. Ähnlich sieht es eine ältere Frau, die schon über 70 Jahre alt ist, ebenfalls kinderlos. Auch sie erhofft sich durch die Demo noch einen Einfluss auf die Wahl zu haben. Sie selber hat bereits per Briefwahl (wie vermutlich etliche andere Wähler:innen) ihre Stimme abgegeben und hofft auf Rot-Rot-Grün. Es ist deutlich merklich, dass sie der lange Gang durch die Stadt körperlich anstrengt. Trotzdem möchte sie aktiv sein: “Ich meine, dass wir als ältere Generation die Jüngeren unterstützen müssen. […] Also die Jungen soll man lassen. Aber ich denke, sie brauchen auch unsere Unterstützung. […] Wir sind eine Rückenstärkung, ohne dass wir uns in den Vordergrund rücken.“ Sie zeigt sich fasziniert und berührt von der jungen Generation, die sich zunehmend politisch zeigt. Eine Generation, zu der auch Pia und Helena gehören, beide 15 Jahre alt und heute zum ersten Mal auf einer Demo. Auch wenn sie diese Bundestagswahl noch nicht mitentscheiden können, wer Politik macht, erhoffen sie sich von dem Streik Aufmerksamkeit, sodass „vielleicht irgendwann mal irgendwas gemacht wird“ – ein bisschen Resignation ist in ihren Stimmen nicht zu leugnen.

Nach über zwei Stunden findet die Menschenmasse wieder ihren Weg zurück auf die Wöhrler Wiese. Die Menge ist um einige Personen geschrumpft, laut ist sie dennoch. „What do we want? – Climate Justice – When do we want it? – Now!“
Zwischen den verbliebenen Demonstrierenden fallen neben den gelben Westen auch zwei orangene Westen mit der Aufschrift „Presse“ auf. Eine davon: Johanna Reichenbach. Relativ unscheinbar macht sie mit ihren kurzen blonden Haaren und ihrer zierlichen Statur zunächst einen schüchternen Eindruck. Sobald sie ihren Mund aufmacht, wird aber klar: Johanna weiß, wovon sie redet und hat ein klares Standing. Sie ist seit Beginn von Fridays For Future in Nürnberg 2018 mit dabei. Ebenfalls durch Greta Thunberg inspiriert, war ihr von Anfang an klar, dass sich auch hier etwas ändern muss. Mit ihren 18 Jahren zählt sie dieses Jahr zu den Wähler:innen, die erstmals ihre Stimme bei einer Bundestagswahl abgeben können. „Rot-Rot-Grün ist wohl noch die beste Variante für’s Klima, für meine Zukunft. […] Wir müssen quasi das wenigste Übel nehmen so ungefähr.“ Auch wenn sie davon ausgeht, dass die meisten schon ihre Stimme per Briefwahl abgegeben haben, hat sie dennoch Hoffnung, auch so kurz vor der entscheidenden Wahl noch einen Einfluss auf diese zu haben. Eins ist ihr aber, wie vielen ihrer Mitstreiter:innen, auch heute schon klar: Mit dem Streiken für das Klima ist es auch nach der Wahl nicht vorbei.

Recap: Was jetzt noch übrig bleibt

Dienstag, 5. Oktober – Neun Tage nach der Bundestagswahl. Wir sprechen nochmal mit Johanna. Über den Ausgang der Wahl schmunzelt sie nur und lacht kurz auf. Von Euphorie kann nicht die Rede sein: „Begeistert war ich auf jeden Fall nicht. Ich habe auch überlegt, ob ich mir am Sonntag einfach das Ergebnis nicht anschaue.“
Über eine Woche nach der Wahl sind die Sondierungsgespräche in vollem Gange. Die Union hat historisch schlecht abgeschnitten, die Sozialdemokraten haben einen Gewinn verzeichnen können. AfD sowie die Linke haben Wähler:innenstimmen verloren. FDP und Grüne haben dazugewonnen - derzeit sieht alles nach einer Ampel-Koalititon aus. “Klar hat man dann die Klimabremse FDP dabei. Und...”, Johanna lacht, “SPD ist halt einfach immer noch besser als CDU/CSU”, antwortet sie, als wir sie nach Ampel- oder Jamaika-Koalition fragen. Beim Klimastreik vor der Wahl hatte Johanna noch gehofft, dass der Streit etwas für die Wahl bringt. Rückblickend sieht sie es nun anders und meint, dass es wahrscheinlich nicht viel gebracht hat. Allerdings ist sie weiterhin zuversichtlich: “Aber wir hoffen halt, dass sich trotzdem durch die ständigen Streiks oder Demos dieses gesamtgesellschaftliche Bewusstsein einfach immer weiter ändert.” Geändert hat sich bislang in der deutschen Politik wenig und was eine neue Regierung anstellen wird, bleibt abzuwarten. Allerdings hat der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen kürzlich in einer Resolution beschlossen, dass der Zugang zu einer sauberen und gesunden Umwelt als grundlegendes Menschenrecht gelten soll. Von insgesamt 47 Stimmen enthielten sich lediglich Russland, Indien, China und Japan. Die Stimmenverteilung - interessant, aber immerhin. Johanna sieht im Klimaschutz mehr als nur den Schutz der Erde, “es geht um die Existenz unserer Gesellschaft.” Zumindest kommen hier Fridays For Future und die Vereinten Nationen inhaltlich zusammen.

Was bereits beim 8. Globalen Klimastreik in Nürnberg angekündigt wurde, steht immer noch auf der Agenda. Die Wahl heißt weiterhin Klimastreik: Am 22. Oktober gehen die Aktivist:innen massenhaft auf die Straße, erstmalig zentral in Berlin. Die Bundestagswahl ist zwar erstmal rum, aber ganz nach dem Motto #IhrLasstUnsKeineWahl, wird jetzt noch mal deutlicher Druck auf die deutsche Politik und ihre im Wahlkampf angepriesenen Klimaziele gemacht.