Ora Blu Vol II

Unser zweites Thema Afghanistan ist komplex. Dass es eine Menge offene Fragen gibt, ist klar. Wir sind losgezogen um eure Fragen zu sammeln und Antworten zu liefern. Und zwar von Ahmad Masood Amer. Von 2003 bis 2017 war er Assistant Country Director des UN-Entwicklungshilfe Programms (UNDP) in Afghanistan. Mittlerweile ist der Author des Buches “Afghanistan: The Journey of State Building and Democracy” Direktor des Think Tanks “Center for Afghanistan Policy Studies” mit Sitz in London.

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    Liv Ergang
    Liska Henglein
    Jonas Janker
    Jonas Well
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    Afghanistan
    Gesellschaft
    Fragen
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    11.11.2021

Mitte Oktober hat sich in München der nasskalte Herbst bereits merklich zum Winter hin geneigt. Die Luft ist feucht, der Atem dampft beim Atmen. Auf der Rasenfläche vor der alten Pinakothek haben sich geschätzt über tausend junge Erwachsene und Jugendliche versammelt. Leere Glasflaschen liegen am Boden, zerbrechen hin und wieder klirrend unter besneakerten Füßen. Hinter den großen Fenstern der alten Pinakothek sieht man maskierte Besucher der Langen Nacht der Museen, draußen von Corona keine Spur. Das Museum teilt am nächsten Tag auf Instagram, wie Hundebesitzer*innen die Scherben der Glasflaschen einsammeln, die heute Abend hier zurückgelassen werden. Der Boden ist feucht, vom Frost und vom verschütteten Alkohol. Wir treffen Tim, 21 Jahre alt, er studiert an der Technischen Universität.

»Warum wurden alle Soldaten abgezogen? Warum haben sie nicht eine kleine Menge dagelassen? Hätte das vielleicht geholfen?«

Der Experte Ahmad Masood Amer antwortet:
Die internationalen Truppen mussten irgendwann abziehen, denn kein Staat kann sich bei der Sicherung seines Territoriums, über lange Zeit, auf die Präsenz ausländischer Truppen verlassen. Und die Afghanen reagieren seit jeher empfindlich auf die Anwesenheit ausländischer Soldaten in ihrem Land. Die afghanische Nationalarmee war im Aufbau begriffen und hatte das internationale Militär bereits in wichtigen Funktionen abgelöst. Sie war für alle militärischen Operationen und die Terrorismusbekämpfung im ganzen Land zuständig. In Anbetracht des breiteren Kontexts und der Beteiligung verschiedener Akteure und Nachbarn und ihrer Stellvertreter war eine kleine Truppenpräsenz von 2.000 bis 2.500 Mann für mindestens weitere fünf bis zehn Jahre notwendig. Und hätte das Resultat was wir jetzt sehen (Machtübernahme der Taliban Anm. d. Red.) definitiv verhindert. Wichtig ist, dass die Zahl der internationalen Truppen schrittweise reduziert wurde und zwischen 2018 und 2020 insgesamt weniger als 10000 betrug. Als Biden die Macht übernahm, betrug die Gesamtzahl der US-Streitkräfte weniger als 2500, und sie hatten keine Kampfrolle.



Weiter durch das dichter werdende Gedränge, an der Fassade des Museums klettern Leute herum, die in Leitmedien als “erlebnisorientierte Jugendliche” umschrieben werden, wir nennen sie mal sportlich. Unter den feierfreudigen kommen wir mit Lina und Clara ins Gespräch, sie stellen zusammen eine Frage:

[Fig. 2] Liska Henglein

Lina und Clara

»Wie kommt man überhaupt zu den Taliban ? Oder ist da jeder einfach von Geburt an bei den Taliban oder wie funktioniert das?«

Der Experte Ahmad Masood Amer antwortet:
Die üble Rolle Pakistans bei der Unterbringung, Ausbildung und Ausrüstung der Taliban und anderer extremistischer Gruppen ist erheblich. In Pakistan gibt es über 2500 Madrasas oder religiöse Schulen, die dazu genutzt werden, Kinder im Alter von 7 Jahren zu rekrutieren, um sie einer Gehirnwäsche zu unterziehen und zu radikalisieren. Diese Kinder verüben dann Selbstmordattentate. Aus ideologischen Gründen verfolgt Pakistan seine Interessen, indem es den islamischen Extremismus in Afghanistan ausbildet und unterstützt, um einem starken hinduistischen Feind im Osten (Indien, Anm. d. Red.) entgegentreten zu können. Die sowjetische Invasion in Afghanistan im Jahr 1975 ebnete den Weg für Pakistans direkte Einmischung in Afghanistan, durch ein komplexes Netzwerk von Terrorgruppen wie den Haqni und anderen. Man kann also mit Sicherheit sagen, dass die Taliban eine Stellvertreterarmee Pakistans sind und nicht tief in der afghanischen Bevölkerung verwurzelt sind. Sie arbeiten über religiöse Loyalitäten und das Madrasa-System in Pakistan. Die meisten Führer der Taliban sind entweder Pakistaner oder Afghanen, die in pakistanischen Koranschulen aufgewachsen und ausgebildet worden sind.

Während der Mond am heute sternenklaren Himmel aufzieht und es merklich kälter wird, tanzen Silhouetten an der Fassade der alten Pinakothek. Junge Menschen stellen sich vor einen Strahler, machen gelöst alberne Bewegungen um dann zehnfach vergrößert auf der Hauswand zu landen. Nicht weit vom Strahler steht Elias. Auch am nun schon später gewordenen Abend wirkt er noch aufgeweckt, Er hat mehrere Fragen.

»Wie oder inwiefern kann die Zukunft in Afghanistan friedlich aussehen? Wie gut sind die Aussichten?«

Der Experte Ahmad Masood Amer antwortet:
Angesichts der Komplexität der Situation und der Vielzahl der Akteure ist es ohne eine starke Präsenz der UN-Friedensmacher unmöglich, ein blühendes und stabiles Afghanistan zu schaffen. Die Taliban können nicht regieren und es ist falsch, die Gruppe als eine Regierung zu betrachten. Sie sind ein Netzwerk von Fundamentalisten, die von Pakistan kontrolliert werden und nach strengen Regeln regieren, die ihnen vom pakistanischen Geheimdienst vorgegeben werden.

»Um was genau ging es bei der Militärpresenz in Afghanistan? Ging es um die Freiheit von Afghanistan oder ging es eher um imperialistische der stationierten Länder?«

Elias

Der Experte Ahmad Masood Amer antwortet:
Nach dem 11. September 2001 griffen die internationalen Streitkräfte in Afghanistan ein, um die erste Taliban-Regierung abzusetzen, nachdem diese sich geweigert hatte, den Anführer von Al-Qahida (Osama Bin Laden, Anm. d. Red.) auszuliefern, der hinter den Anschlägen vom 11. September 2001 auf die USA stand.



Caner treffen wir an der gleichen Stelle, er ist mit Elias und Deza unterwegs. Die Kälte scheint ihm zuzusetzen, er stellt eine Frage, die viele Journalist*innen bereits versucht haben zu beantworten.

»Wieso hat sich die politische Lage in Afghanistan so wahnsinnig schnell verändert, wo das Land doch eigentlich schon so lange von größeren Mächten besetzt waren?«

Der Experte Ahmad Masood Amer antwortet:
Der Zusammenbruch der Regierung und der Wechsel in der politischen Ausrichtung waren kein Zufall, sondern das Produkt einer Reihe von Fehlern verschiedener Akteure. Korruption in der Regierung im In- und Ausland, paschtunischer Chauvinismus, Korruption in der Politik und die Einsetzung eines korrupten Präsidenten, der als Marionette der USA galt und nicht vom afghanischen Volk gewählt wurde, waren einige der Gründe für den Wandel.



Deza mischt sich ein, stellt eine Frage die in den nächsten paar Jahren immer wieder eine Rolle spielen wird. Bereits im Sommer gingen die Bilder vom Empfang einer Delegation der Taliban beim Chinesischen Außenminister um die Welt. Aus europäischen Ländern gibt es solche Bilder bisher nicht, eine diplomatische Beziehung in irgendeiner Form nach Afghanistan wird man aber auch hier schaffen müssen.

»Ist es ethisch vertretbar mit der Taliban zusammenzuarbeiten in der Zukunft?«

Der Experte Ahmad Masood Amer antwortet:
Es handelt sich um eine terroristische Organisation, die aber derzeit de facto das Land regiert. Diejenigen, die unter den Taliban in der Regierung arbeiten, sind also nicht alle Taliban, sondern Überbleibsel der früheren Regierungen und Beamte wie Lehrer, Ärzte, Krankenschwestern, und sie können nicht als Taliban betrachtet werden. Sie haben auch keine andere Wahl als zu leben und ihre Arbeit fortzusetzen.

Unser Abend neigt sich dem Ende zu, unsere Fotografin wird noch beim Versuch das Geschehen von oben zu fotografieren, freundlich von Polizist*innen gebeten das Geklettere an der Museumsfassade zu unterlassen. Zwanzig Meter weiter balanciert jemand eine wirklich große Musikbox auf dem Kopf. Wir entschließen uns den Heimweg anzutreten, um ungeklärte Fragen aufzulösen.