Interview mit Prof. Dr. Norbert Kersting zur Generationskluft bei der Bundestagswahl

»Wählen war früher so etwas wie eine Bürgerpflicht«

BUMS wollte mit Blick auf die Bundestagswahl von Prof. Dr. Norbert Kersting wissen: Warum wählen junge Leute nicht? Was ist Generationengerechtigkeit? Wieso sind alle im Bundestag so alt? Und vor allem, welche Rollen spielen die verschiedenen Generationen im politischen Alltag?

  • [authors]
    Liv Ergang
    Jonas Janker
  • [tags]
    Interview
    Wahljahr 2021
    Politikwissenschaft
  • [meta]
    17.09.2021

BUMS: Prof. Kersting, wir haben junge Menschen gefragt, ob sie am 26. September ihre Stimme abgeben wollen. Interessanterweise haben uns viele von ihnen erzählt, dass sie nicht wählen werden. Was hält Menschen generell vom Wahlgang ab?

Prof. Kersting: Zunächst muss man erwähnen, dass die jetzige Erstwählergeneration sich eigentlich sehr stark politisch engagiert. Es gibt ja immer den Vorwurf, die Jugend engagiere sich nicht mehr politisch. Verschiedene Studien zeigen aber, zum Beispiel von Shell, dass es in dieser Generation sehr wohl eine große Gruppe gibt, die sich sehr stark engagiert. Zum Teil viel stärker als die vorhergehende und fast so stark wie die Babyboomer-Generation in den sechziger und siebziger Jahren. Diese Generation hat aber andere Wege sich zu engagieren und das Ganze ist dann eher in eine bestimmte Richtung unterwegs.
Bei Wahlen selbst zeigen sich trotzdem große Gruppen, die nicht wählen oder nicht mehr wählen. Das hat häufig etwas mit dem sozialen Milieu zu tun. Insbesondere in ärmeren Stadtteilen sehen wir, dass diese deutlich unterrepräsentiert sind. Nicht nur die Jugendlichen, sondern auch die älteren Menschen. Grundsätzlich sehen wir, nicht nur bei den Jüngeren, aber da wird es noch eklatanter, einen wichtigen Faktor, der beim Wählen immer wichtig war, der jetzt aber wegfällt:
Wählen war früher so etwas wie eine Bürgerpflicht oder auch ein Bürgerrecht. Vor allem nach dem Nationalsozialismus. Das Privileg, dass man endlich frei wählen durfte, wurde sehr ernstgenommen. Ich habe mal von einer Art Ritualisierung der Wahl gesprochen, das war also etwas ganz Besonderes. Heute hat das an Bedeutung verloren. Gleichzeitig fällt auch das Interesse an den politischen Parteien weg. Daher gibt es große Gruppen, die dann doch keine richtigen Ansprechpartner oder Parteien finden, und für die es dann doch nicht so wichtig ist zu wählen.

BUMS: Wie stark ist denn eine Demokratie, in der so viele Leute nicht wählen gehen?

Prof. Kersting: Grundsätzlich bestimmen natürlich diejenigen, die zur Wahl gehen, die Zusammensetzung des Bundestages oder der Parlamente. Das ist für die Legitimationsbasis natürlich schon problematisch. Im europäischen Vergleich haben wir aber immer noch eine relativ hohe Wahlbeteiligung. Die Wahlbeteiligung bei uns liegt noch immer deutlich über 70 Prozent. In Großbritannien ist sie zum Beispiel unter 60 Prozent gerutscht und in den USA und der Schweiz gab es eine Wahlbeteiligung von deutlich unter 50 Prozent. Das heißt, in Deutschland sind wir da noch gut dabei. Aber es ist für die Demokratie, für die Legitimationsbasis meiner Meinung nach nicht besonders gut. Das schert dann aber viele Politiker, wenn sie einmal gewählt sind, nicht mehr so besonders. Trotzdem sollten wir darauf achten, dass es genug Möglichkeiten gibt, dass jeder seine Stimme abgeben kann.

BUMS: Viele junge Menschen berichten, dass ihre politische Einstellung sehr stark von der Einstellung ihrer Eltern abhängt. Woher kommt das?

Prof. Kersting: Es gibt zwei Wege: Zum einen, dass man sehr stark geprägt ist durch die Eltern, die einen sozialisieren, die einen politisieren und die das Interesse bei einem wecken. Das ist gerade in der Jugendphase der Fall. Aber es gibt auch die andere Gruppe, die genau das Gegenteil macht.
Dieser Apfel fällt manchmal weiter vom Stamm und manchmal näher an den Stamm, wie man so schön sagt.

BUMS: Im laufenden Bundestagswahlkampf fallen oft die Begriffe Generationenkonflikt oder Generationengerechtigkeit. Was versteht man darunter eigentlich?

Prof. Kersting: Wir haben es bei vielen aktuellen politischen Entscheidungen mit Themen zu tun, die nicht nur die eigene Generation oder die jetzige Generation betreffen, sondern bei denen die Zukunft gedacht wird. Aber im Grunde muss man schon die Interessen auch der Jugendlichen und der Kinder, die ja noch nicht wählen dürfen, mit berücksichtigen. Diese nachkommenden Generationen haben zum Beispiel irgendwann ein Problem ihre Rente zu sichern, wenn dieser Bereich nicht ordentlich aufgestellt ist. Darauf muss geachtet werden.
Große Themen in den Kommunalwahlen und in deutschen Bundesländern sind Nachhaltigkeit und Klimaschutz. Das stellt sich gerade in der jüngeren Generation als ganz wichtig dar und darauf stürzen sich jetzt alle Parteien. Das hat etwas mit Generationengerechtigkeit zu tun: Man muss schauen, dass unsere ältere Generation der Babyboomer nicht die Ressourcen für die nachfolgenden Generationen, etwa die Generation X, Y oder die der Millenials, verbrauchen. Das muss gerecht bedacht werden und es müssen Wege gefunden werden, dass keine zukünftige Generation nicht berücksichtigt wird. Wir haben, (…) einen Generationswechsel bei der Beteiligung.

BUMS: Der Altersdurchschnitt der Bundestagsabgeordneten lag nach der letzten Wahl 2017 bei circa 50 Jahren. Nicht besonders repräsentativ für die jüngere Bevölkerung, könnte man meinen?

Prof. Kersting: Das Dilemma ist tatsächlich, dass wir wenige junge Menschen im Bundestag haben und dass der Altersdurchschnitt sehr hoch ist. Das hat etwas damit zu tun, dass der Gang durch die Parteien häufig ein sehr langwieriger ist, etwa bis man dann mal Kandidat ist und in den Bundestag kommt. Es gibt verschiedene Gruppen, die unterrepräsentiert sind. Sie finden im Bundestag zum Beispiel kaum jemanden, der arbeitslos gewesen ist. Oder alleinerziehende Mütter werden sie nur wenige finden, aber die haben auch einen besonderen Status. Die Bundestagsabgeordneten müssen im Grunde als Stellvertreter auch die anderen gesellschaftlichen Gruppen repräsentieren. Das ist eine These, die wichtig ist. Das ist eigentlich auch für viele handlungsleitend, einige berücksichtigen dann stärker ihre eigenen Interessen. Aber eigentlich ist ein Bundestagsabgeordneter von allen gewählt und muss die gesamte Gesellschaft im Blick haben und darf keine Gruppen benachteiligen. Insbesondere nicht die, die nicht im Bundestag sitzen.