Eine kurze Geschichte der Internationalen Intervention in Afghanistan

Von Herbst 2001 bis Sommer 2021 waren Internationale Truppen in Afghanistan und kämpften dort gegen die Taliban. Doch weshalb kam es zu diesem Konflikt? Was hatten die Terroranschläge vom 11. September 2001 und Al-Qaida mit den Taliban und Afghanistan zu tun? Warum dauerte die Militärische Mission so lange und wie veränderte sich ihr Charakter im Verlauf der Zeit? Und wer waren die wichtigsten Akteure und was waren Ihre Interessen?

  • [authors]
    Jonas Well
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    Afghanistan
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    24.10.2021

Nachdem Al-Qaida am 11. September 2001 in den USA eine Reihe von Terroranschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon verübt hatten, sandten die USA kurz darauf eine militärische Mission nach Afghanistan, um die dort herrschenden Taliban zu stürzen. Nach zwanzig Jahren haben die internationalen Truppen im August 2021 Afghanistan fluchtartig verlassen - kurz nachdem die Taliban die Macht im Land wieder übernommen hatten. Doch wie kam es überhaupt zu diesem Konflikt und worum ging es? Wer diesen Konflikt verstehen will, muss zunächst bei der Entstehung der Taliban Mitte der 1990er Jahre beginnen.

Entstehung der Taliban

In den 80ern war die UdSSR in Afghanistan einmarschiert und versuchte, das Land in einen sowjetischen Satellitenstaat umzuwandeln. Allerdings bildete sich bald massiver Widerstand gegen die Fremdbesatzung. Angeführt wurde dieser Widerstand von selbsternannten Gotteskriegern, den sogenannten Mujahedin. Die Mujahedin organisierten einen so effektiven Widerstand, dass sich die Sowjets Ende der 80er Jahre aus Afghanistan zurückzogen. Nachdem sie fort waren, brach ein blutiger Bürgerkrieg zwischen verschiedenen Fraktionen der Rebellen aus. Der Zustand der Anarchie und des Chaos wurde erst durch den Aufstieg der Taliban Mitte der 1990er Jahre beendet. Die Taliban setzten sich größtenteils aus jungen Männern zusammen, die als Kinder vor dem Bürgerkrieg ins benachbarte Pakistan geflohen waren. Dort radikalisierten sie sich in fundamentalistisch-islamischen Religionsschulen, den sogenannten Madrasas. Im Folgenden eroberten die Taliban eine Stadt nach der anderen von den Mujahedin und kontrollierten so schon bald den Großteil des Landes. Lediglich der Norden des Landes war noch in der Hand einer kleinen Gruppe von Rebellen, der Northern Alliance. Während ihrer unterdrückerischen Herrschaft implementierten die fundamental-islamistischen Taliban mittelalterlichen Gesellschaftsvorstellungen und eine auf der Scharia basierenden Rechtsprechung. Musik, Fernsehen und Tanz waren streng verboten, die täglichen Gebete wurden zur Pflicht und Frauen durften nur vollverschleiert und in männlicher Begleitung vor die Tür.

Afghanistan – ein sicherer Hafen für internationalen Terrorismus

Unbemerkt von der Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft entwickelte sich Afghanistan zusehends zu einem Sammelbecken und einem Zufluchtsort für islamistische Fundamentalisten, Extremisten und Terroristen aus verschiedensten Ländern. Die Taliban boten ihnen einen sicheren Hafen, von dem aus sie ihre Aktionen organisieren und koordinieren konnten. Zu diesem Zeitpunkt siedelte sich auch Al-Qaida unter Führung von Osama Bin Laden in Afghanistan an. In diesem Kontext kam es dann 2001 zu den Terroranschlägen vom 11. September. An diesem Tag kaperten Terroristen mehrere Flugzeuge in der Luft und steuerten sie absichtlich in das Worldtrade Centre und den Sitz des US-Verteidigungsministeriums, das Pentagon. Schnell stand fest, dass Al-Qaida und Bin Laden von Afghanistan aus die Anschläge geplant und organisiert hatten. Nachdem sich die Taliban weigerten, Bin Laden auszuliefern, wurde in den USA der Entschluss gefasst, das Taliban Regime mit militärischer Gewalt abzusetzen, um einerseits Al-Qaida zur Strecke zu bringen und andererseits um sicherzustellen, dass auch in Zukunft keine terroristische Gefahr von Afghanistan aus auf amerikanischen Boden ausgehen sollte.

Beginn der Militärischen Operation

Bei dem Entschluss, eine militärische Mission zu entsenden, beriefen sich die USA auf eine Resolution, die der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in einer Sondersitzung einen Tag nach den Anschlägen am 12. September beschlossen hatte. In dieser Resolution war der Anschlag als ‘threat to international peace and security’ gewertet worden, der es rechtfertige ‘all necessary steps to respond to the terrorist attacks’ einzuleiten.[1] Dieses Statement wurde von den USA und später ihren Verbündeten als völkerrechtliche Legitimation für einen militärischen Einsatz gewertet. Am selben Tag trafen sich auch die NATO-Mitgliedsstaaten. Sie bewerteten den Anschlag als Angriff auf die USA und riefen den Bündnisfall aus. Bereits am 8. Oktober 2001 kam es dann zu ersten amerikanischen und britischen Luftangriffen auf Taliban Stellungen und Al-Qaida Trainingscamps. In den nächsten Monaten war es vor allem die Northern Alliance, die mit Hilfe amerikanischer Spezialeinheiten und Luftunterstützung eine Offensive gegen die Taliban startete. Diese war so erfolgreich, dass die Taliban schon Anfang 2002 abgesetzt waren.
Nachdem die Taliban innerhalb weniger Monate weitestgehend vertrieben wurden, kam nun die Frage auf, wie es mit Afghanistan weiter gehen sollte. Die USA hatten stets betont, dass sie kein Nation-Building in Afghanistan betreiben wollten, sondern lediglich das Ziel verfolgten, Al-Qaida und die Taliban zu vertreiben. Noch 2001, kurz vor dem Beginn der Intervention in Afghanistan, hatte Präsident Bush verkündet: ‘People often ask me, “How long will this last?” This particular battlefront will last as long as it takes to bring al-Qaida to justice. It may happen tomorrow, it may happen a month from now, it may take a year or two‘.[2] Niemand konnte sich zu diesem Zeitpunkt vorstellen, dass die Mission in Afghanistan 20 Jahre andauern würde. Schon um 2002 herum setzte sich allerdings immer mehr die Meinung durch, dass eine dauerhafte Eliminierung der terroristischen Gefahr aus Afghanistan nur möglich sei, wenn die internationale Gemeinschaft den geordneten Übergang zu einem stabilen demokratischen Staat einleiten und überwachen würde. Daher wurde 2002 der Bonner-Prozess gestartet, bei dem, unter Leitung der UN, verschiedene Afghanische Fraktionen und Führer nach Bonn geladen wurden, um über die Zukunft Afghanistans zu beraten. Bei diesem Treffen wurde unter anderem eine Übergangsregierung gebildet, die von Hamid Karzai als Präsidenten geführt wurde. Die neue Übergangsregierung richtete sich mit der Bitte an den UN Sicherheitsrat, eine internationale Sicherheitstruppe nach Kabul zu senden, um den Aufbau des neuen Staates in Afghanistan abzusichern.[3] Als Reaktion wurde 2002 die von der UN geführte International Security Assistance Force (ISAF) gebildet, die 2003 von der NATO übernommen wurde.

Nation-Building

Die Verantwortung für das Nation-Building und den Aufbau eines demokratischen Afghanistans wurde größtenteils an die Vereinigten Nationen delegiert. Durch verschiedene Projekte und die Beratung der afghanischen Regierung sollten demokratische Institutionen und eine starke Zivilgesellschaft etabliert werden. Allerdings gab es einige strukturelle Hindernisse, welche dem Aufbau eines modernen demokratischen Staates im Wege standen. Zum Beispiel waren die afghanischen Eliten, welche den neuen Staat führten, oftmals mehr am Erhalt und Ausbau der eigenen Macht als am Aufbau eines demokratischen Staates interessiert. Allgegenwärtige Korruption lähmte den Staatsapparat und verhinderte einen effizienten Regierungsstil. In einem Interview mit einer amerikanischen Behörde sagte ein afghanischer Sicherheitsberater: ‘corruption is not just a problem for the system of governance in Afghanistan; it is the system of governance’.[4] Die Korruption machte den Staat jedoch nicht nur ineffizient, sondern schmälerte auch dessen Legitimationsbasis in der afghanischen Bevölkerung erheblich. Neben dem Nation-Building wurden Milliarden in Entwicklungshilfe für Afghanistan investiert, um Bildung, Infrastruktur, Gesundheitsversorgung etc. zu verbessern. Obwohl in manchen Bereichen Erfolge erzielt werden konnten, verpufften die meisten Initiativen oder die Hilfsgelder wurden zweckentfremdet und landeten in den Taschen korrupter Beamter.

Rückkehr der Taliban

Was anfangs in den teilnehmenden Ländern wie Deutschland als Unterstützungs- und Wiederaufbaumission verkauft worden war, stellte sich nach 2002 immer mehr als Kampfeinsatz heraus. Das lag vor allem daran, dass die Taliban nach 2001 keineswegs besiegt und vernichtet waren. Vielmehr organisierten sie einen effektiven Widerstand. Vor allem nach 2006 stieg die Zahl von Taliban Angriffen und Kämpfen sprunghaft an.[5] Dieser Trend setzte sich während der gesamten Mission hindurch fort. Die durchschnittliche Zahl täglicher Angriffe, die durch die Taliban verübt wurden, stieg von unter 5 im Jahr 2003 auf über 150 in 2012 und die jährliche Zahl ziviler Opfer stieg von 1,533 in 2009 auf 5283 allein im ersten Halbjahr 2021 (Siehe Bums-Infografik). Wie diese Zahlen deutlich erkennen lassen, gelang es ISAF, den amerikanischen Streitkräften und der afghanischen Armee nie, die Taliban dauerhaft zu eliminieren. Im Gegenteil konnten die Taliban kontinuierlich ihre Aktionen ausweiten und Teile des Landes unter ihre Kontrolle bringen. Als Reaktion darauf beschloss die amerikanische Regierung kurz nach dem Amtsantritt von Obama eine deutliche Aufstockung der US-Truppen in Afghanistan. Und auch die ISAF-Mission wurde deutlich ausgeweitet. Schon 2009 kündigten die USA allerdings an, dass die meisten Truppen nach 2012 wieder abgezogen werden sollten. Nachdem die internationalen Truppen zwischen 2009 und 2012 in äußerst verlustreichen Kämpfen die Taliban aus vielen Teilen des Landes wieder vertrieben hatten, eroberten die Taliban dieselben Gebiete nur kurz nach dem Abzug der zusätzlichen Soldaten*innen wieder zurück. Nach 2012 blieb zwar ein großes Kontingent internationaler Streitkräfte in Afghanistan, doch die neugegründete afghanische Armee sollte Schritt für Schritt die Verantwortung für das Land übernehmen. Im Jahr 2014 endete dann auch ISAF und wurde durch Resolut Support ersetzt. In den folgenden Jahren lag der Fokus der NATO Mission vor allem auf der Ausbildung der afghanischen Armee. Die USA setzten ihren Kampfeinsatz gegen die Taliban allerdings vor allem unter Einsatz von Drohnen unvermindert fort.[6]

Rolle Pakistans

Ein Grund dafür, dass die Taliban nach ihrer Absetzung 2001 zurückkommen konnten, ist auch in der Unterstützung, welche sie durch Pakistan erfahren haben, zu sehen. So konnten die Taliban-Führer sich nach Pakistan zurückziehen und von dort den Widerstand neu organisieren. Es ist ein offenes Geheimnis, dass der pakistanische Militärgeheimdienst die Taliban immer wieder mit Geldern und Infrastruktur unterstützte. Vor dem Hintergrund der geopolitischen Rivalität mit Indien versuchte Pakistan so, seinen Einfluss in der Region zu wahren.[7]

Der Rückzug

Aufgrund der sich immer weiter verschlechternden Sicherheitslage in Afghanistan und der fehlenden Perspektive hinsichtlich einer friedlichen Lösung des Konfliktes startete die US-Regierung 2017 unter Präsident Trump direkte Verhandlungen mit den Taliban. Gegen die Zusage der Taliban, mit der afghanischen Regierung zusammenzuarbeiten, sicherten die USA 2020 nach langen Verhandlungen einen Rückzug aller internationaler Truppen im Jahr 2021 zu. Präsident Biden bestätigte nach seinem Amtsantritt diese Entscheidung, woraufhin im Frühjahr 2021 der Abzug begann. Zeitgleich starteten die Taliban eine Offensive und eroberten eine Provinz nach der anderen von der afghanischen Armee, die nun plötzlich die alleinige Verantwortung für die Sicherheitslage trug. Die dramatischen Erfolge der Taliban veranlassten die afghanische Regierung Anfang August aus dem Land zu fliehen. Nach dem folgenden Zusammenbruch des afghanischen Staates und des afghanischen Sicherheitsapparates übernahmen die Taliban die Kontrolle über das Land und die letzten internationalen Truppen verließen Ende August überstürzt das Land.




[1] United Nations Security Council: Resolution 1368, adopted by the Security Council at its 4370th meeting, on 12th September 2001. Online library of the UN:
https://digitallibrary.un.org/record/448051?ln=es

[2] Craig Withlock, At war with the truth (Article Washington Post, 2019):
https://www.washingtonpost.com/graphics/2019/investigations/afghanistan-papers/afghanistan-war-confidential-documents/

[3] Petersberg Accord, December 2001, UN online library:
https://peacemaker.un.org/afghanistan-bonnagreement2001

[4] Afghan National Security Advisor Rangin Spanta, cited from SIGAR report, 2021, p. 31.

[5] Carlotta Gall, Taliban Surges as U.S. Shifts Some Tasks to NATO (The New York Times, 2006)
https://www.nytimes.com/2006/06/11/world/asia/11afghan.html

[6] Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction, What we nee to Learn: Lessons From Twenty years of Afghanistan Reconstruction (Virginia, 2021), p. 35.

[7] Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction: Quarterly Report to Congress on Operation Freedom’s Sentinel, Jan-Mar 2021, p. 25.