Deutschland will einfach nicht helfen

Politischer Unwille ermöglicht es, dass zehntausende Menschen weiterhin in Afghanistan in Angst vor dem Taliban-Regime festsitzen. Die deutsche Bundesregierung nutzt dafür bürokratische Strukturen als Ausrede und Mittel zum Zweck, Menschenleben nicht retten zu müssen. Dabei Bürokratie nicht Schuld an der Lage in Afghanistan, sondern spiegelt nur die Politik der Bundesregierung konsequent wider. Die versucht sie damit aus ihrer selbstverschuldeten Verantwortung zu ziehen.

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    Katharina Gebauer
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    Kolumne
    Afghanistan
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    12.11.2021

Bis Mitte Oktober konnte die Bundesregierung laut eigenen Angaben rund 6.100 Menschen ausfliegen (Stand 11.10.2021), weitere 40.000 Menschen warten weiter in Afghanistan auf ihre Evakuierung, darunter afghanische Ortskräfte, Aktivist:innen und Journalist:innen. Der erste Flug der deutschen Luftbrücke hob am 16. August mit nur sieben Menschen ab, 10 Tage später, am 26. August, beendete Deutschland seine Evakuierungsmission. Diese militärische Luftbrücke zur Ausreise vom Flughafen in der afghanischen Hauptstadt Kabul nach Taschkent in Usbekistan konnte nur bis Ende August aufrechterhalten werden, dann zog sich die US-Armee, die den Flughafen Kabul bis dahin geschützt hatte, zurück und mit ihr auch die westlichen Partnerländer.

Seit dem Ende der militärischen Evakuierungsmission versuchen viele Menschen auf dem Landweg über Nachbarländer wie Pakistan nach Deutschland zu gelangen. Laut Auswärtigem Amt sollen etwa 830 Visa für Ortskräfte und sonstige Schutzbedürftige ausgestellt worden sein. Doch die deutsche Bundesregierung wird zu Recht dafür kritisiert, zu spät evakuiert und Menschen im Stich gelassen zu haben - leere Versprechungen seitens der Bundesregierung inklusive. Dabei sollte es egal sein, ob diese Menschen der Bundeswehr geholfen haben oder einfach gefährdete Menschen sind, die sich nun aus Angst um ihr Leben unter dem Taliban-Regime an einem startenden Flugzeug festklammern.

Öffentlich diskutierte Analysen kamen in den letzten zwei Monaten zu dem Schluss, dass Deutschland durch seine dramatische Fehleinschätzung die derzeitige Lage in Afghanistan mitzuverantworten hat. Frühe und rechtzeitige solidarischen Rufe nach einer zügigen Evakuierung der Menschen aus Kabul und politischer Verantwortungsübernahme wurden ignoriert und mit den Worten “2015 darf sich nicht wiederholen” quittiert, was absolut zynisch ist, aber in den Wahlkampf passt. Zahlreiche NGOs und gemeinnützige Initiativen wie Pro Asyl und die Luftbrücke Kabul, kritisieren seitdem vor allem die Abläufe der deutschen Bürokratie, die Flexibilität verhindern würde und somit auch die Rettung vieler Menschen vorsätzlich verzögere. Sie fordern ein Visa-on-arrival Verfahren, damit Menschen ausgeflogen werden können, “die im bürokratischen Irrsinn der letzten Monate noch kein Visum zur Flucht bekommen haben”. Evakuierungen müssten schnell und unbürokratisch fortgesetzt und die Liste gefährdeter Personen für Evakuierungen wieder geöffnet werden.

Mitte Oktober feierte die Bundesregierung mit einem gruselig anmutenden Zapfenstreich vor dem Bundestagsgebäude das Ende des Afghanistaneinsatzes für die Bundeswehr, mit dem Wissen, tausende Menschen in Gefahr vor Verfolgung, Unterdrückung und Gewalttaten zurückgelassen zu haben. Währenddessen konnte die private Initiative “Luftbrücke Kabul” 423 Menschen (Stand 13.10.) evakuieren. Organisiert und unterstützt wird die Initiative durch Bündnisse wie Leave no one behind, Seebrücke und Sea Watch. Sie will die selbstorganisierte Flucht gefährdeter Menschen unterstützen, die nicht auf den offiziellen Evakuierungslisten der Bundesregierung stehen. Dabei ist die Initiative in engem Kontakt mit den deutschen Behörden und deutschen Botschaften in den Nachbarländern. Mit Spendengeldern finanzierte die Initiative ein Flugzeug, das Ende August auf dem Kabuler Flughafen 189 Menschen mitnehmen sollte.

Das Flugzeug bekam ein Funkrufzeichen der Nato und konnte somit auf dem militärischen Teil des Flughafens landen. Doch laut der Luftbrücke Kabul blockierte das Auswärtige Amt die Rettungsaktion aktiv und weigerte sich, den Transport eines durch Katar gesicherten Konvois freizugeben, um so durch die Checkpoints der Taliban und die Kontrollen des US-Militärs bis zum Flughafen zu kommen. Schließlich hob das gecharterte Flugzeug mit 18 portugiesischen Ortskräften ab, 170 Menschen blieben zurück, einige Menschen eines weiteren Konvois wurden von der USA ausgeflogen.

Hauptsache, alle Soldat:innen und Mitarbeiter:innen des Auswärtigen Amt sind in Sicherheit. Sogar ein 26 Tonnen schwerer Gedenkstein, der in Gedenken an die im Einsatz verstorbenen Soldat:innen im deutschen Feldlager Camp Marmal ganz stolz aus dem Marmal-Gebirge geklaut wurde, ist nach Deutschland geflogen worden. Dass deutsche Behörden nicht alles daran setzen, weitere Menschen aus Afghanistan zu evakuieren, liegt dann einfach an “hohen bürokratischen Hürden“, so die Argumentation.

Politischer Unwille, versteckt hinter Vorschriften und Gesetzen, die es selbst dann einzuhalten gilt, wenn Menschenleben in realer Gefahr vor brutalen Extremist:innen sind, zeigt sich auch in umgekehrter Richtung - für die Menschen, die es bereits in der Vergangenheit nach Deutschland flüchteten. Erst Mitte August lenkte Innenminister Seehofer ein und setzte durch öffentlichen Druck zahlreicher Organisationen wie Amnesty International, Pro Asyl, Caritas und die Diakonie Abschiebungen nach Afghanistan aus. In der Außenwirkung wird seit Jahren vom Innenministerium und Auswärtigen Amt suggeriert, dass die Lage in Afghanistan ja gar nicht so gefährlich für Menschen sei, die Deutschland loswerden will. Bereits Anfang Juli rief die afghanische Regierung die europäischen Staaten mit Blick auf den Vormarsch der Taliban dazu auf, eine Abschiebungen in das Land auszusetzen, auch die Vereinten Nationen warnten vor einer Verschärfung der Sicherheitslage.

Doch deutsche Ausländerbehörden schoben kurz vor der Machtübernahme der Taliban fleißig weiter ab, laut Monitor-Recherchen auch Menschen mit Bleiberecht. Nach der Pandemie, so verkündete Innenminister Seehofer, sollen noch mehr Menschen in Afghanistan der Willkür der Taliban ausgesetzt werden. Er forderte in einem Brief an die EU-Kommission gemeinsam mit den Innenministern aus Österreich, Dänemark, den Niederlanden, Belgien und Griechenland eine Fortsetzung von Abschiebungen, während acht EU-Botschafter:innen einen Abschiebestopp verlangten.

Regierungssprecher:innen behaupten, sie würden die Gefahrenlage in Afghanistan sehr genau beobachten und individuell einschätzen. Grundlage dafür ist der neuste Bericht zur Gefahrenlage in Afghanistan vom Auswärtigen Amt, der mit Stand Mai 2021 allerdings vor dem Abzug der Nato-Truppen arbeitet. Der taz lag dieser Bericht vor. Im Mai hatten die Taliban 32 statt mittlerweile über 200 von 388 Distrikten in Afghanistan in ihrer Macht. Die Süddeutsche hat dazu eine übersichtliche Karte erstellt. Deutschland schob also mit veraltetem Wissen weiterhin Menschen nach Afghanistan ab. Zudem widerspreche der Bericht einer ausführlichen Studie von Juni 2021, die die Diakonie Deutschland in Auftrag gegeben hat. Ihr zufolge müssen abgeschobene Afghan:innen aus Deutschland gezielte Bedrohungen und Angriffe fürchten.

Sei es die deutsche Geflüchteten- und Asylpolitik oder die Rettung der Menschen vor dem Taliban-Regime: Die Bürokratie einer rassistischen Abschottungspolitik verwaltet so, wie es die Regierung will. Und die lässt derzeit Menschen zurück und nimmt ihren Tod in Kauf - sei es in Afghanistan oder an den europäischen Außengrenzen. Zivilgesellschaftliche Bewegungen und NGOs müssen deshalb Unterstützung selbst organisieren - weil er sich verweigert und Hilfestrukturen sogar aktiv behindert. Die Flucht nach Europa wird kriminalisiert und damit auch die Menschen, die hierher flüchten. Doch schutzbedürftige Menschen sind keine illegale Einwander:innen, denn Menschen können nicht illegal sein.

Da wo der Staat versagt, muss sich die Zivilgesellschaft organisieren. Hier vor Ort bedeutet das, die Lage in Afghanistan weiterhin zu verfolgen, sichtbar zu machen, sie politisch richtig einordnen und nicht aufzuhören, alles daran zu setzen und zu fordern, die Menschen vor Ort zu evakuieren. Das wäre das Mindeste in einer solidarischen Gesellschaft.