Mit den Taliban verhandelt man nicht - oder doch?
Diplomatische Beziehungen mit Afghanistan

Nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan und vorhergehendem militärischen Abzug der NATO-Einsatzkräfte, fordert die neue Taliban-Regierung starke und offiziell diplomatische Beziehungen - auch mit Deutschland. Forderungen, die zunächst auch von Seiten des Auswärtigen Amts vehement abgelehnt wurden.
“Keinen Cent mehr” wolle man nach Afghanistan geben, wenn das Kalifat ausgerufen wird, ließ Heiko Maas im Sommer noch veräußern. Aber sollte man wirklich keinen weiteren Cent mehr zahlen, ist das tatsächlich die Lösung? Was heißt es eigentlich, diplomatische Beziehungen zu führen? Und wie sieht der aktuelle Stand im Austausch zwischen Deutschland und Afghanistan aus?

  • [authors]
    Leonie Bednorz
    Amelie Ries
  • [tags]
    Afghanistan
    Diplomatische Beziehungen
  • [meta]
    02.12.2021

Mit dem Vorrücken der Taliban in die afghanische Hauptstadt Kabul Mitte August 2021, haben sich in kürzester Zeit viele internationale Repräsentant:innen aus dem Land zurückgezogen und ihre Botschaften zunächst vorübergehend geschlossen. Ein Status, der bislang auch noch in vielen Auslandsvertretungen in Afghanistan, unter anderem in der Deutschen Botschaft Kabul, besteht.

Seit Ende April hatte man schrittweise mit dem Abzug von NATO-Soldat:innen aus Afghanistan begonnen. Mit dem Verlassen von Bagram, der landesweit größten Militärbasis der USA und NATO, 50 Kilometer von Kabul entfernt, war der vollständige Abzug wie besiegelt. Der Rückzug der internationalen Truppen sorgte für ein Zuspitzen der Situation zwischen der afghanischen Regierung und den radikalislamischen Taliban. Die Taliban besetzten zunehmend afghanische Gebiete und rückten im August nach weiteren Invasionen bis an den Rand von Kabul vor. Friedensgespräche zwischen den beiden Interessenvertretungen führten zu nichts, die afghanische Regierung machte Platz für die Machtübernahme der Taliban und der mittlerweile ehemalige Präsident Aschraf Ghani verließ fluchtartig das Land. Das rasante Vorrücken der radikalislamischen Miliz und der einhergehende Rückzug der afghanischen Regierung veranlasst viele internationale Vertreter:innen zu einer unmittelbaren Schließung der ansässigen Botschaften und der zügigen Ausreise ihrer Diplomat:innen.

Zwanzig Jahre nach ihrem Sturz sind die Taliban nun wieder an der Macht und stellen eine de facto Regierung, die nun internationale, offiziell diplomatische Beziehungen fordert. Aber was versteht man eigentlich unter diplomatischen Beziehungen?

Diplomatische Beziehungen –Grundlegendes

Per Definition versteht man unter Diplomatie die professionelle Tätigkeit, die Interessen des eigenen Staates in einem anderen Staat zu vertreten.
Diplomat:innen, die für gewöhnlich als Beamt:innen des Außenministeriums – in Deutschland das Auswärtige Amt - tätig sind, sind an notwendigen außenpolitische Entscheidungen beteiligt und übermitteln Informationen und Reaktionen aus dem Ausland an den eigenen Staat. Grundlegend möchte man im Auswärtigen Amt einen friedlichen Austausch mit anderen Staaten herstellen und andere Länder und ihre Kulturen verstehen. Das Interesse deutscher Diplomatie besteht nicht darin, die eigene Kultur und das deutsche politische System im Ausland zu präsentieren – vielmehr geht es darum, Brücken zu bauen und eine Verbindung zu Deutschland herzustellen, mit dem Ziel auf Augenhöhe kommunizieren zu können. Eine wichtige Grundlage sind hier zumeist auch internationale Verträge, die Diplomat:innen in Verhandlungen mit den ausländischen Partnern diskutieren können. Gerade im Austausch mit Konfliktpotential soll Diplomatie in erster Linie dazu dienen, friedliche Lösungen zu finden und einen gegenseitigen Interessenausgleich zu fördern. Aber auch in Krisensituationen haben diplomatische Beziehungen eine zentrale Rolle. Bestehen im Austausch mit einem anderen Staat extreme Interessenunterschiede, wie es zuletzt auch der Fall in Afghanistan war, so können entsandte Diplomat:innen auch in ihre Heimatländer zurückbeordert werden, womit zumeist die Beendigung der diplomatischen Beziehung einhergeht.

Noch vor der Eroberung Kabuls durch die Taliban, hatten viele Staaten angekündigt, dass sie sich nicht auf Verhandlungen mit den Radikalislamisten einlassen werden. Die EU hatte bereits mit internationaler Isolation gedroht, einhergehend mit der Einstellung jeglicher Hilfeleistungen aus Brüssel. Auch wenn die Definition diplomatischer Beziehungen diesen Aspekt nicht in Gänze aufgreifen mag: zu dem Austausch zwischen Staaten fallen neben kulturellen und politischen Aspekten, auch ökonomische Faktoren mit in den Bereich der Diplomatie. Und so war man sich auch in Deutschland im Auswärtigen Amt einig, dass die finanziellen Unterstützungen, die bislang relativ hoch ausgefallen sind, bei Einführung der Scharia und Ausrufung des Kalifats durch die Taliban eingestellt werden. Jedes Jahr wären bislang 430 Millionen Euro nach Afghanistan gegangen - Gelder, ohne die das Land nach Aussagen des Auswärtigen Amts nicht überlebensfähig sei.

Unmittelbar nach der Machtübernahme, Anfang September, fordert der Sprecher der Taliban, Zabihullah Mujahid, dann nach diplomatischen Beziehungen - die ja zuvor vehement von den internationalen Akteuren abgelehnten wurden - und einer internationalen Einbindung mit politischer Legitimität der neuen Taliban-Regierung. Darunter erhoffen sie sich besonders die Fortsetzung finanzieller Unterstützung, humanitärer Hilfe und Kooperation in den Bereichen Gesundheit, Landwirtschaft und Bildung. Aspekte, die eben auch wichtige Faktoren im diplomatischen Austausch darstellen. Mujahid betonte im Kontext der Forderung auch die lange Beziehung zwischen Afghanistan und Deutschland, die bereits viel Gutes bewirkt hätte.

Kurzer Rückblick: Wie hat sich die deutsch-afghanische Beziehung eigentlich entwickelt?

Die diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Afghanistan bestehen nicht erst seit Kurzem. Die beiden Staaten können auf eine über 100 Jahre lange gemeinsame Diplomatie - mit nur wenigen, aber dafür umso stärkeren Unterbrechungen - zurückblicken. Begonnen mit den ersten offiziellen diplomatischen Beziehungen zwischen den Staaten im Jahr 1921, über einen Freundschaftsvertrag 1926 nahm die politische Verbundenheit der beiden Länder mit der Erklärung Afghanistans zum unabhängigen Staat im zweiten Weltkrieg ein vorübergehendes Ende. Erst 1954 wurden die diplomatischen Beziehungen zwischen der BRD und dem zentralasiatischen Land wieder offiziell aufgenommen.
Die BRD betonte deutlich ihre westlichen Positionen im afghanischen Staat, beendete sie jedoch ihre diplomatischen Beziehungen zu ebendiesem im Jahr 1979 nach einer Annäherung Afghanistans an die DDR. Was jedoch nicht die materiellen Hilfeleistungen oder Entwicklungsprogramme unterbrach. Die Sympathie deutscher Staatsbürger:innen gegenüber Afghan:innen brach nicht ab - so nahm Deutschland bis zum Jahr 2000 rund 80.000 geflüchtete Afghani:innen auf. Diese Einstellung änderte sich, als die Mujaheddin (Kämpfer, die gegen das damals vorherrschende kommunistische Regime in Afghanistan waren) 1992 die Macht in Afghanistan übernahmen. Doch auch nach der Machtergreifung durch die aus einzelnen Mujaheddingruppierungen bestehenden Taliban im Jahr 1996 rissen die Hilfsleistungen von deutscher Seite aus nicht ab. Erst mit dem Anschlag vom 11. September 2001 wurden die diplomatischen Beziehungen der beiden Staaten sofort unterbrochen - Deutschland ließ umgehend die Taliban-Vertretung mit Sitz in Frankfurt am Main schließen und forderte direkt eine Beseitigung des afghanischen Terrorregimes. Was folgte, waren militärische Interventionen auf afghanischem Boden, bei der die deutsche Bundeswehr etwa innerhalb der Einsätze „Operation Enduring Freedom“, „International Security Assistance Force“ und „Resolute Support“ beteiligt waren. Nach der schnellen Zerschlagung des Taliban-Regimes konzentrierte sich der Einsatz deutscher Sicherheitskräfte vor allem auf die langfristige Aufrechterhaltung der Sicherheit in Afghanistan. Die Ausbildung, Unterstützung und Beratung afghanischer Streitkräfte in sicherheitsrelevanten Institutionen und in höheren Rängen von Armee und Polizei standen dabei im Mittelpunkt. Auch an einer zivil-militärischen Zusammenarbeit, also humanitäre Hilfe- und Unterstützungsdienste, war Deutschland beteiligt. Die diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Afghanistan waren somit deutlich definiert und rissen bis zum Sommer 2021 nicht ab.

Status Quo – verhandelt man nun mit den radikalislamistischen Taliban?

Den ehemaligen internationalen Einsatzkräften wurde nach dem Erstarken der Taliban schnell bewusst, dass man sich auf den Austausch und die Kommunikation mit den Taliban einlassen muss, um auch in Zukunft Einfluss auf die Entwicklung in Afghanistan haben zu können - in erster Linie will man vor allem Schutzsuchende und Ortskräfte sicher aus dem Land ausreisen. Für Deutschland ist aber auch klar: die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen kann nicht an die Anerkennung der Taliban-Regierung gebunden werden. Heiko Maas stellt als Grundlage für den Austausch vier Forderungen:

- humanitäre Hilfsorganisationen müssen sicheren und ungehinderten Zugang nach Afghanistan erhalten,
- ausreisewillige Afghan:innen, und ebenfalls ausländische Staatsbürger:innen, dürfen das Land verlassen,
- die de facto Regierung muss dafür sorgen, dass Afghanistan nie wieder zum Brenn- und Ausgangspunkt des internationalen Terrorismus wird
- und Menschen- wie auch Frauenrechte müssen gesichert werden.

Letzteres schließt ebenso gleichberechtigte Bildungsmöglichkeiten für alle sowie den freien Zugang zur Taliban-Regierung mit ein. Am 18. November sind deutsche Diplomat:innen zum ersten Mal seit der Machtübernahme der Taliban wieder in dieafghanische Hauptstadt Kabul gereist, um mit der de facto Regierung zu verhandeln und die Forderungen für den weiteren Austausch und eine mögliche Zusammenarbeit klar zu machen. Das Auswärtige Amt erläutert im Nachgang, dass man die Zusicherungen der Taliban abwarten wolle, also so wie Maas die ganze Zeit schon betont, “die Taliban an ihren Taten messen” und davon auch das Engagement der Bundesregierung in Afghanistan abhängig zu machen. Bislang ist davon noch nicht viel zu spüren. Die Situation in Afghanistan hat sich seit der Machtübernahme der Taliban äußerst verschlechtert - und das nicht nur hinsichtlich der miserablen Versorgungslage im Land. Auch wenn der amtierende Regierungschef Mullah Achund äußerte, dass seine Regierung für jeden frei zugänglich sei - eine weitere Forderung der internationalen Gemeinschaft, um in konkreten Austausch zu treten - sieht man bislang kaum Nicht-Talibs und keine einzige Frau teilnehmen. Frauen dürfen nur noch in Vollverschleierung in die Öffentlichkeit und Studentinnen werden in den Universitäten strikt vom anderen Geschlecht getrennt. Die Gewaltbereitschaft der Taliban zur Durchsetzung ihrer neuen Regierungsposition ist hoch. Nichts stimmt bislang mit den verhandelten Argumenten überein und bislang ist kaum Besserung in Sicht.

Für die Möglichkeit der Einflussnahme wird man auch weiterhin mit den Taliban verhandeln müssen. „Dann muss die internationale Staatengemeinschaft auch bereit sein mit solchen, die man nicht mag oder die möglicherweise auch aus der Vergangenheit bis in die Gegenwart mit inakzeptablen Dingen aufgefallen sind, auch Gespräche zu führen, auch wenn’s einem schwer fällt”, so Außenminister Maas. Also: auch wenn es unangenehm wird und sich die Ansichten und Regierungsansprüche der Taliban zumeist nicht mit den deutschen demokratischen Werten vereinen lassen, bedarf es sogar in Konflikt- und Krisensituationen einen Kommunikationskanal. Eine Möglichkeit, die in solchen Fällen über diplomatische Beziehungen laufen kann. Letztlich ist das oberste Ziel die Vermeidung von Anarchie - und so heißt es aus dem Auswärtigen Amt: Manchmal müsse man auch einem Diktator die Hand schütteln.